Die klinische Bewertung nach der neuen MDR – de facto Pflicht zur klinischen Prüfung
Nach der neuen Medizinprodukteverordnung (MDR) sind die Hersteller von Medizinprodukten verpflichtet, für alle ihre Produkte – unabhängig von der Risikoklasse – eine klinische Bewertung durchzuführen, die auch eine klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen (sog. Post Market Clinical Follow-up, PMCF) umfasst.
Die klinische Bewertung ist eine wesentliche Herstelleraufgabe und fester Bestandteil des Qualitätsmanagementsystems eines Herstellers (Artikel 10, Abs. 3 und 9f MDR).
Per Definition handelt es sich bei der klinischen Bewertung um einen systematischen und geplanten Prozess zur kontinuierlichen Generierung, Sammlung, Analyse und Bewertung der klinischen Daten zu einem Produkt. Durch die klinische Bewertung überprüft der Hersteller die Sicherheit und Leistung seines Produkts, einschließlich des klinischen Nutzens.
Diese Überprüfung hat zum Ziel (MDR Artikel 61):
Ziele der Klinische Bewertung (MDR Artikel 61)
Die klinische Bewertung erfolgt in der Regel auf der Grundlage klinischer Daten, die aus den folgenden Quellen stammen können:
- Klinische Prüfung(en), die der Hersteller mit seinem eigenen Produkt durchführt
- Klinisch relevante Angaben, die der Hersteller aus der Überwachung nach dem Inverkehrbringen (Post Market Surveillance, PMS), insbesondere aus dem PMCF gewinnt
- Fachliteratur über
- klinische Prüfungen oder sonstige in der Fachliteratur wiedergegebenen Studien über ein nachgewiesenermaßen gleichartiges Produkt
- sonstige klinische Erfahrungen mit dem eigenen Produkt oder einem nachgewiesenermaßen gleichartigen Produkt
Definition Klinische Daten (MDR Artikel 2 (48)):
Klinische Daten bezeichnen Angaben zur Sicherheit und Leistung, die im Rahmen der Anwendung eines Produkts gewonnen werden.
Ein Verzicht auf klinische Daten ist gemäß der Vorgabe in der MDR nur noch für absolut unkritische Produkte (z.B. Schrauben, Keile, Platten und Instrumente) möglich und muss vom Hersteller entsprechend begründet sein. Diese Begründung basiert auf der Grundlage des Risikomanagements und unter Berücksichtigung der spezifischen Wechselwirkungen zwischen Produkt und menschlichem Körper, der bezweckten klinischen Leistung und den Angaben des Herstellers.
Klinischer Entwicklungsplan
Die klinische Bewertung eines Medizinprodukts hat auf der Basis eines „genau definierten und methodisch fundierten Verfahrens“ zu erfolgen (MDR Artikel 61 Abs. 3), das bereits seit Juni 2016 in der von der Europäischen Kommission veröffentlichten Guideline zur klinischen Bewertung (MEDDEV 2.7/1 rev. 4) detailliert beschrieben ist. Die Guideline antizipiert Inhalte, die mit der neuen MDR legal bindend werden, wie beispielsweise den Plan zur klinischen Bewertung (Clinical Evaluation Plan, CEP) oder den klinischen Bewertungsbericht. Neu dabei ist, dass im Plan zur klinischen Bewertung, der die Ziele und den Aufbau der klinischen Bewertung festlegt, zukünftig auch ein klinischer Entwicklungsplan enthalten sein muss.
Der klinische Entwicklungsplan beschreibt im Detail die klinische Planung, die vom Hersteller vorgesehen ist, um die klinische Sicherheit, die geringstmögliche Belastung und den effektiven Nutzen des zu bewertenden Medizinprodukts über eigene klinische Daten nachweisen zu können. Die klinische Planung reicht dabei von explorativen über pivotale Studien bis hin zur klinischen Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen (PMS), unter Angabe von Etappenzielen und der Beschreibung möglicher Akzeptanzkriterien.
Klinische Bewertung nach dem Äquivalenzprinzip
Hinzu kommt, dass die neue MDR wie auch die Vorgaben in der MEDDEV-Guideline 2.7/1 rev.4 die Möglichkeit der klinischen Bewertung nach dem Äquivalenzprinzip über die Literaturroute sehr stark einschränken. Die klinische Bewertung darf sich künftig nur dann noch auf klinische Daten zu einem äquivalenten Produkt stützen, wenn dieses nachgewiesenermaßen zum eigenen Produkt gleichartig ist.
Deshalb müssen mehr und mehr klinische Daten aus klinischen Prüfungen zum eigenen Produkt für die klinische Bewertung vorliegen, was wiederum im klinischen Entwicklungsplan entsprechend zu berücksichtigen ist.
Werden also Vergleichsprodukte zur klinischen Bewertung herangezogen, dann ist der Äquivalenzgrad für diese Vergleichsprodukte sowohl aus technischer als auch aus biologischer und klinischer Sicht nachzuweisen. Diese Prüfung der Gleichartigkeit der Merkmale erfordert, dass
- es keinen klinisch bedeutsamen Unterschied bei der Sicherheit und klinischen Leistung der Produkte gibt,
- er auf eine angemessene wissenschaftliche Begründung gestützt ist und
- der Hersteller über einen hinreichenden Zugang zu den Daten von Produkten verfügt, mit denen er die Gleichartigkeit belegen möchte.
Merkmale zum Nachweis der Gleichartigkeit:
Technisch | Biologisch | Klinisch |
---|---|---|
Ähnliche Bauart und Anwendungsbedingungen | Gleiche Materialien oder Stoffe in Kontakt mit den gleichen menschlichen Geweben oder Körperflüssigkeiten | gleiche klinische Bedingungen bzw. gleicher klinischer Zweck, einschließlich eines ähnlichen Schweregrads und Stadiums der Krankheit |
Ähnliche Spezifikationen und Eigenschaften (z.B. Energieintensivität, Zugfestigkeit, Viskosität, Oberflächenbeschaffenheit, Wellenlänge, Software-Algorithmen) | Ähnliche Art und Dauer des Kontakts | Anwendung an der gleichen Köperstelle und Patientenpopulation (Alter, Anatomie, Physiologie) |
Ähnliche Entwicklungsmethoden | Ähnlichem Abgabeverhalten der Stoffe einschließlich Abbauprodukte und herauslösbarer Bestandteile | Gleiche Anwender |
Ähnliche Funktionsgrundsätze und entscheidende Leistungsanforderungen | Ähnliche, maßgebliche und entscheidende Leistung im Hinblick auf die erwartete klinische Wirkung für eine spezielle Zweckbestimmung |
Klinische Evidenz
Hinzu kommt, dass die klinischen Daten, auf die sich ein Hersteller bei der Äquivalenzbewertung bezieht, einen ausreichend klinischen Nachweis liefern müssen, um die Ziele der klinischen Bewertung zu erreichen. Dabei muss der Umfang der klinischen Evidenz den Merkmalen des Produkts und seiner Zweckbestimmung angemessen sein und ist vom Hersteller entsprechend zu spezifizieren und zu begründen.
Definition Klinische Evidenz (MDR Artikel 2 (51)):
Klinische Evidenz bezeichnet die klinischen Daten und die Ergebnisse der klinischen Bewertung zu einem Produkt, die in quantitativer und qualitativer Hinsicht ausreichend sind, um qualifiziert beurteilen zu können, ob das Produkt sicher ist und den angestrebten klinischen Nutzen bei bestimmungsgemäßer Verwendung nach Angabe des Herstellers erreicht.
Hersteller, die also nicht über ausreichend klinische Nachweise von Vergleichsprodukten verfügen, werden dadurch nicht umhinkommen, klinische Daten über klinische Prüfungen mit ihren eigenen Produkten zu generieren.
Unklar ist allerdings noch immer, was genau unter dem Begriff „ausreichende klinische Evidenz“ zu verstehen ist und was aus Sicht der Benannten Stellen als ausreichende klinische Daten für die klinische Bewertung der verschiedenen Produkte bzw. Produktgruppen erachtet wird.
Um diese Frage möglichst spezifisch und EU-weit einheitlich zu klären, wird auf EU-Ebene angestrebt, für die einzelnen Medizinprodukte bzw. –gruppen Leitlinien und Spezifikationen zu erstellen. Laut einem Bericht vom nationalen Arbeitskreis zur Implementierung der MDR (sog. NAKI) soll zunächst für die Produkte Herzklappen, interventionelle Führungsdrähte, Gelenkendoprothesen und Osteosynthese-Schrauben exemplarisch auf EU-Ebene festgelegt werden, welche Art von klinischen Daten vorliegen müssen, damit eine ausreichende klinische Evidenz nachgewiesen werden kann. Wann allerdings diese Leitlinien und Spezifikationen vorliegen, ist derzeit nicht bekannt.
Nichtsdestotrotz werden die Neuerungen der MDR bei strenger Umsetzung dazu führen, dass künftig viele der bisher zugestandenen Vergleichsprodukte für die klinische Bewertung wegfallen. Denn die Äquivalenz ist künftig viel umfassender und detaillierter nachzuweisen als bislang gefordert. Die Hersteller müssen zudem über immer mehr Detailinformationen verfügen, die sie kaum anders als vom Hersteller des Konkurrenzprodukts bekommen könnten. Das wird dazu führen, dass die klinische Bewertung über die Literaturroute wesentlich seltener möglich sein wird und häufiger klinische Prüfungen vor dem Inverkehrbringen mit den eigenen Produkten durchzuführen sind. Dies wiederum wird den Aufwand und die Kosten der Hersteller erhöhen, was bei der Produktentwicklung mit zu berücksichtigen ist.
Klasse III Produkte und implantierbare Produkte
Für Klasse III Produkte und implantierbare Produkte werden klinische Prüfungen durch die Vorgaben in der MDR sogar zum Regelfall. Denn hier schränkt der Gesetzgeber die Möglichkeit, nach dem Äquivalenzprinzip zu bewerten, so stark ein, dass nur noch in wenigen Ausnahmefällen auf eine klinische Prüfung bei diesen Produkten verzichtet werden kann.
Diese Ausnahmen beschränken sich auf:
Auch für die neu in die MDR aufgenommenen Produkte ohne medizinische Zweckbestimmung (z.B. Geräte zur Lipolyse, transkranialen Stimulation des Gehirns durch elektrischen Strom, Tattoo- oder Haarentfernung, farbige Kontaktlinsen), werden klinische Daten aus klinischen Prüfungen zum Nachweis der Leistung des Produkts immer unumgänglicher. Ein Verzicht auf die Durchführung klinischer Prüfungen ist bei dieser Art von Produkten nämlich nur noch dann möglich, wenn es ausreichende Gründe dafür gibt, auf bereits vorhandene klinische Daten zu einem analogen Medizinprodukt zurückzugreifen. Was allerdings unter dem Begriff „analoges Medizinprodukt“ zu verstehen ist, ist derzeit noch nicht näher spezifiziert.
Klinische Daten nach dem Inverkehrbringen (Post-Market Surveillance, PMS)
Des Weiteren kommt hinzu, dass mit Einführung der MDR klinische Daten nun auch nach dem Inverkehrbringen proaktiv gesammelt, dokumentiert und ausgewertet werden müssen, um die klinische Bewertung kontinuierlich anhand von klinischen Daten aktualisieren zu können.
Für Implantate und Klasse III Produkte ist der klinische Bewertungsbericht sogar jährlich mit Daten aus der Marktüberwachung anzupassen. Ansonsten gilt für alle anderen Produkte, dass die klinische Bewertung immer dann zu aktualisieren ist, sobald neue Informationen aus der Überwachung nach dem Inverkehrbringen (PMS) vorliegen, die das Potential haben die aktuelle Bewertung zu ändern oder alle 2-5 Jahre, falls es sich um Produkte ohne signifikante Risiken handelt die hinreichend etabliert sind.
Eine ganz wesentliche Rolle werden dabei klinische Daten aus dem Post-Market-Clinical Follow-Up (PMCF) spielen. Über das PMCF sammelt und bewertet der Hersteller proaktiv klinische Daten zum eigenen Medizinprodukt, die dann im Rahmen der Re-Evaluierung bei der Re-Zertifizierung dazu beitragen, klinische Evidenz hinsichtlich der Sicherheit, Leistungsfähigkeit und des klinischen Nutzens der Medizinprodukte zu bestätigen.
Das PMCF wird im Zuge der neuen MDR zu einem integralen und verpflichtenden Bestandteil der Marktüberwachung des Herstellers, der über prospektive PMCF-Studien proaktiv klinische Daten unter Anwendungsbedingungen sammelt und bewertet.
Im Fall von modifizierten implantierbaren Produkten und Produkten der Klasse III eines bereits vermarkteten Produkts desselben Herstellers werden diese PMCF-Studien sogar aktiv in der MDR zum Nachweis der Sicherheit und Leistung gefordert für den Fall, dass die initiale klinische Bewertung nach dem Äquivalenzprinzip erfolgt ist (Artikel 61 Abs. 4).
Fazit
Die Neuregelungen der MDR zur klinischen Bewertung werden künftig dazu führen, dass deutlich mehr klinische Daten zu den eigenen Medizinprodukten des Herstellers vorliegen müssen als bisher, um im Rahmen der klinischen Bewertung klinische Evidenz mit den grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen zeigen zu können.
Durch die Einschränkungen der Äquivalenzbetrachtung und den hohen Anforderungen an die Qualität der klinischen Daten werden klinische Prüfungen für das erstmalige Inverkehrbringen eines Medizinprodukts und PMCF-Studien für die Re-Zertifizierung immer mehr erforderlich. Für Klasse III Produkte und implantierbare Produkte sind sie bis auf wenige Ausnahmen sogar verpflichtend durchzuführen.
Deshalb ist es wichtig, dass sich die Hersteller bereits jetzt mit den neuen Vorgaben zur klinischen Bewertung vertraut machen und im zweiten Schritt für ihre Produkte die vorhandenen klinischen Daten kritisch dahingehend prüfen, ob diese ausreichend sind, um klinische Evidenz zu zeigen bzw. um weiterhin nach dem Äquivalenz-Prinzip bewerten zu können.
Festgestellte Lücken bei den klinischen Daten oder die Erkenntnis, die klinische Bewertung nicht weiter nach dem Äquivalenz-Prinzip durchführen zu können, sollten die Hersteller zum Anlass nehmen, die noch verbleibende Zeit bis 2020 zu nutzen, um proaktiv klinische Daten zu den eigenen Produkten über klinische Prüfungen oder PMCF-Studien zu generieren.
Picture: Glenn Carstens-Peters