Das neue Zauberwort: Risikobasiertes Qualitätsmanagement in der klinischen Forschung
“Risikomanagement” im Bereich der Klinischen Forschung ist schon seit einigen Jahren ein gängiger Begriff. Verschiedene Leitfäden sind zu diesem Thema veröffentlicht worden und haben mehr oder weniger Interesse gefunden.
Die bekanntesten unter ihnen sind:
Risk based Quality Management wird gesetzliche Pflicht
Auch in der neuen Verordnung für klinische Prüfungen, der EU Clinical Trials Regulation No. 536/20144, wird die Abkehr von der “one size fits all” Strategie bei der Planung und Durchführung von klinischen Prüfungen deutlich: Die Einführung der Kategorie “low intervention trial” ist ein Schritt in die Richtung, von einer einheitlichen Abwicklung von klinischen Prüfungen abzugehen.
Hier wird der Tatsache Rechnung getragen, dass eine First in Man Studie ein gänzlich anderes Risikoprofil und damit andere praktische Erfordernisse mit sich bringt als eine Phase IV Studie mit zugelassenen Prüfpräparaten.
Auch die Ausführungen der Regulation 536/2014 zu verschiedenen Bereichen, wie z.B. adverse event reporting (Article 41), Umgang mit Prüfpräparaten (Article 51), Monitoring (Article 48) und Trial Master File (Article 57), geben Hinweise darauf, dass bei Umfang und Art der Maßnahmen in diesen Bereichen die Besonderheiten der Studie Berücksichtigung finden sollten.
Empfehlungen zur Umsetzung der Clinical Trials Regulation No. 536/2014 macht die EMA Expert Group in ihrem consultation document “Risk proportionate approaches in clinical trials”5, das bis zum 31. August 2016 zur öffentlichen Beratung ausgeschrieben war. Hier werden u.a. Beispiele präsentiert, wie sich in den o.g. Bereichen ein risikoadaptierter Ansatz für „low intervention“ Studien umsetzen lässt.
Die größte Beachtung verdient jedoch die Einbindung des Themas risikobasiertes Qualitätsmanagement in das Addendum zu der “Bibel” der klinischen Forschung, der ICH Guideline for Good Clinical Practice (ICH-GCP). Der Entwurf einer revidierten ICH-GCP Guideline6 hat inzwischen die Phase der öffentlichen Konsultation abgeschlossen. Das für November 2016 geplante Vorliegen der finalen Guideline wird sich jedoch voraussichtlich bis Mitte 2017 hinausziehen, wie bei der diesjährigen EUCROF Conference on Clinical Research zu hören war.
Dieses Addendum hebt das Thema Risikomanagement in klinischen Prüfungen auf ein neues Niveau, denn sowohl nach der alten Gesetzgebung (AMG §40(1)) als auch nach der neuen Clinical Trials Regulation (Article 47) sind die Prinzipien der Guten Klinischen Praxis nach ICH rechtlich verbindlich. Die Umsetzung eines risikobasierten Qualitätsmanagements im Rahmen von klinischen Prüfungen bleibt also nicht mehr lange der Entscheidung des Sponsors vorbehalten, sondern wird gesetzliche Pflicht.
Mehr noch: Im Abschlussbericht zu jeder klinischen Prüfung ist der jeweilige Qualitäts-Management Ansatz zu beschreiben sowie wichtige Abweichungen von vordefinierten Qualitätsstandards darzulegen. Und nicht zuletzt: Die Auditoren und Inspektoren, die sich vornehmlich an der ICH-GCP Guidelines orientieren, werden auch diesen Aspekt in ihre Bewertungen aufnehmen.
Ein individualisiertes Qualitätsmanagement-System für jede Studie
Das Ziel der revidierten ICH GCP Guideline ist klar definiert: Für jede klinische Prüfung gilt es, ein individualisiertes Qualitätsmanagement-System einzurichten, das über die Gesamtheit der Prüfung, von der Planung, Durchführung, Datenerhebung, Auswertung und Berichterstattung bis hin zur Archivierung, greift.
Nach Auffassung der Experten soll dieses System ein interdisziplinäres Gremium aus allen Bereichen, einschließlich Medizin, Projektmanagement, Datenmanagement, Biometrie, IT und Pharmakovigilanz, einbeziehen und sich an der Relevanz der erhobenen Daten und an den der Prüfung inhärenten Risiken orientieren.
Der dabei anzuwendende risikobasierte Ansatz ist nicht neu: Wir kennen ihn aus dem Bereich der stichprobenbasierten industriellen Qualitätskontrolle (z.B. ISO Normen) wie auch der Entwicklung von IT-Systemen (z.B. GAMP-5). Im Einzelnen sind die nachfolgende Schritte vorgesehen:
Schritte zur Etablierung eines risikobasierten Qualitätsmanagements
Schritt 1: Identifizierung von kritischen Prozessen und Daten
Hier geht es um die Analyse der Besonderheiten von Prüfplan, Patientenpopulation, Prüfprodukt, teilnehmende Zentren etc. “Kritische”, d.h. für den Patientenschutz und die Reliabilität der Studienergebnisse wesentliche Zielparameter und Prozeduren, sollen identifiziert werden.
In der Regel gehören zu den kritischen Daten u.a. die (Haupt )Zielparameter, schwerwiegende unerwünschte Ereignisse, Daten zur Randomisierung und Verblindung, das Vorliegen des Informed Consent, und die Einhaltung der Patientenauswahlkriterien.
Schritt 2: Identifizierung von Risiken
Die kritischen Daten und Prozesse werden nach möglichen Gefahren für die Untersuchungsteilnehmer und die Validität der Daten hin untersucht. Solche risikorelevanten Bereiche können sich auf die Art der aufgezeichneten Daten, spezifische Aktivitäten bei der Sammlung dieser Daten, und Aspekte des Probandenschutzes beziehen.
Die verfügbaren Informationen werden nach möglichen Gefahrenquellen durchforstet, die Kernfrage lautet: Was könnte schief gehen?
Schritt 3: Bewertung der Risiken
Die identifizierten Risiken sollen im nächsten Schritt bewertet werden – in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens, ihrer Tragweite und der Wahrscheinlichkeit, mit der der eingetretene Schaden entdeckt wird.
Die Kernfragen hierbei lauten: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Risiko eintritt? Wenn ein Risiko tatsächlich eintritt, welchen Schaden kann es anrichten? Und, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit den Eintrittsfall rechtzeitig oder überhaupt zu erkennen?
Schritt 4: Risikokontrolle
Auf der Basis der Risikobewertung wird entschieden, welche Risiken vernachlässigt, also akzeptiert, werden können, und wo Kontrollen nötig sind. Hierbei wird festgelegt, welches Risikoniveau noch akzeptabel ist und wo präventive und korrektive Maßnahmen zur Risikoreduktion oder -eliminierung nötig sind.
Maßnahmen zur Risikominimierung sollten in den verschiedenen Dokumenten verankert werden, wie z.B. im Prüfdesign, Monitoring Plan, in vertraglichen Vereinbarungen zur Zuweisung von Funktionen und Verantwortlichkeiten, systematischen Qualitätskontrollen zur Einhaltung von Standardarbeitsanweisungen, und nicht zuletzt im Trainingsplan. Überschreitungen des Risikoniveaus im Studienverlauf lösen eine Überprüfung der Notwendigkeit von Maßnahmen aus.
Schritt 5: Risikokommunikation
Alle Aktivitäten im Rahmen des risikobasierten Qualitätsmanagements sollten dokumentiert und kontinuierlich an alle Beteiligten kommuniziert werden, um Transparenz zu schaffen und einen gemeinsamen Prozess der Optimierung der Studiendurchführung zu gewährleisten.
Schritt 6: Risikoüberprüfung
Der Prozess der Risikokontrolle begleitet die Studie von der Planung, über die Durchführung, bis hin zur Auswertung und Berichterstattung. Die vordefinierten Risiken, ihre Bewertung, und die jeweiligen Toleranzgrenzen werden kontinuierlich überprüft und ggf. angepasst. Neue Risiken ergeben sich ggf. durch die praktische Erfahrung im Rahmen der Studiendurchführung, andere Risiken verlieren an Relevanz oder benötigen ein modifiziertes Toleranzniveau.
Schritt 7: Berichterstattung
Wie bereits erwähnt, sollte der in einer speziellen Studie angewandte Qualitätsmanagement-Ansatz im Abschlussbericht beschrieben und wichtige Abweichungen von den vordefinierten Toleranzgrenzen erläutert werden.
Man denkt nur noch risikobasiert
Viele Sponsoren und CROs sind momentan damit beschäftigt, ihr eigenes System für die Implementierung eines risikobasierten Qualitätsmanagements zu entwickeln. Zwar wurde auch bisher versucht, mögliche Risiken einer klinischen Prüfung zu minimieren, und bei aufgetretenen Fehlern wurde ein CAPA (Corrective and Preventive Action) Prozess in Gang gesetzt.
Der Unterschied liegt im systematischen, strukturierten und dokumentierten Vorgehen und in der Verlagerung der gedanklichen Auseinandersetzung mit dem Thema auf das Vorfeld einer Studie. Oder, wie die Referentin eines Seminars es zusammenfasste: “Man denkt nur noch risikobasiert”7!
Hilfestellungen zur Definition von kritischen Daten und Prozessen sowie von Risikoindikatoren sind verfügbar, allen voran die von TransCelerate8 und ECRIN9 entwickelten Vorlagen. Die Herausforderung wird darin liegen, die Subjektivität der Bewertung von Risiken, also der Auftretenswahrscheinlichkeit, der Tragweite und der Entdeckungswahrscheinlichkeit eines Fehlers, in den Griff zu bekommen.
Hierfür ist die oben erwähnte interdisziplinäre Gruppe von “Risikoexperten” unerlässlich. Es gilt, die wichtigen Risiken zu erkennen, zu minimieren, und zu kontrollieren. Dass dabei die Vernachlässigung von als gering oder irrelevant eingeschätzten Risiken ebenfalls ein Risiko darstellt, ist ein Umstand, mit dem wir leben müssen. Wir sind gespannt auf die weiteren Entwicklungen!
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- Q9 – Quality Risk Management, ICH Harmonised Tripartite Guideline, 2005
- Oversight of Clinical Investigations – A Risk-Based Approach to Monitoring, Food and Drug Administration (FDA), 2013
- Reflection paper on risk based quality management in clinical trials, EMA/269011/2013, 18 November 2013
- Regulation (EU) No. 536/2014 of the European Parliament and of the Council of 16 April 2014 on clinical trials on medicinal products for human use, and repealing Directive 2001/20/EC
- Consultation document: Risk proportionate approaches in clinical trials. Recommendations of the expert group on clinical trials for the implementation of Regulation (EU) No. 536/2014 on clinical trials on medicinal products for human use.
- ICH Harmonised Guideline E6(R2), Integrated Addendum to ICH E6(R1): Guideline for Good Clinical Practice ICH, Draft ICH Consensus Guideline, 2015
- Susanne Zeller (sinngemäß zitiert), Seminar “Risk-based Quality Management”, Frankfurt, 07. Juli 2016
- TransCelerate BioPharma Inc.: Position Paper: Risk-Based Monitoring Methodology, 2013
- European Clinical Research Infrastructures Network Integrating Activity: Guideline on risk management for clinical research Version 1.0, 16/02/2015